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60. Geburtstag: Podiumsdiskussion und Zertifikate für Peer-Unterstützer*innen


Erfolgreiche Ausbildung: Die Peer-Unterstützer*innen haben ihre Zertifikate überreicht bekommen. Foto: Markus Becker

„An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit“ – das Lied von den „Toten Hosen“ bringt die Stimmungslage am Tag des 60. Geburtstages der Lebenshilfe Wetzlar-Weilburg e. V. und der Podiumsdiskussion „Da simmer dabei“ im Bürgerhaus Büblingshausen auf den Punkt. Und zwar in mehrfacher Hinsicht. Ganz viel von Abschlussball liegt in der Luft: Vor allem ist dies bei den Peers zu spüren, die aufgeregt ihrem großen Tag entgegenfieberten. Nun sollten sie nach einer langen Zeit der Ausbildung ihre Zertifikate als Peer-Unterstützer*innen erhalten. Die Lebenshilfe Wetzlar-Weilburg e. V. hatte 2019 das Projekt „Peer-Unterstützung“ gestartet. Peer-Unterstützer (englisch von Peer-Group) sind Menschen mit Behinderung, die andere Menschen mit Behinderung im Alltag unterstützen. Ziel war es, Menschen mit Behinderung zu befähigen, gleich Betroffene bei Alltagssituationen zu unterstützen. „Das Projekt lässt sich ganz einfach beschreiben: Betroffene unterstützen Betroffene. Denn sie sind die besten Experten in eigener Sache und können anderen da am besten helfen, wo unsere Erfahrungswerte enden“, erklärt Yvonne Kilian, die zusammen mit Heike Grotstollen und Conny Richter-Wenzel das Projekt leitet. Doch der Reihe nach.

Da ist zunächst die Freude über die erste Veranstaltung seit März 2020 und Erleichterung zu spüren. „Zwei Gefühle sind in mir unterwegs. Einerseits die Aufregung, nach so langer Zeit wieder vor vielen Menschen zu sprechen. Andererseits überwiegt aber die Freude, Sie alle zu sehen“, begrüßt Vorstandsvorsitzender Thomas Bauer die Anwesenden. Zwei große Anlässe gäbe es, an diesem Tag zu feiern. „Einmal den 60. Geburtstag unserer Lebenshilfe und der Abschluss des Peer-Projekts“, so Thomas Bauer weiter. Es sei die Initiative der Eltern und Angehörigen vor 60 Jahren gewesen, „sich für die Bedarfe der Kinder einzusetzen und Angebote zu machen“. Dieser „Geist der Lebenshilfe“ lebe heute fort und drücke sich am besten in dem Motto des Geburtstagsjahres „GemEINSam“ aus.
Anschließend gratuliert Jörg Kratkey in einem Grußwort im Namen der Stadt Wetzlar und des Oberbürgermeisters Manfred Wagner zum 60. Geburtstag. „Sie als Lebenshilfe haben Leben und Teilhabe von Menschen mit Behinderung in unserer Region entscheidend geprägt und dafür gebührt Ihnen Dank“.

Welch erfolgreichen Weg die Lebenshilfe Wetzlar-Weilburg e. V. in den letzten Jahrzehnten gegangen ist, hätte man nicht besser dokumentieren können, als an diesem 22. September 2021 im Bürgerhaus Büblingshausen. Damals war die Ausgangslage eine ganz andere. Mutige Eltern hatten sich am 22.9.1961 zusammengetan und aus den Lebenshilfe-Ortsvereinigungen Wetzlar und Weilburg die Kreisvereinigung gegründet. Viele Eltern schlossen sich damals aus schierer Verzweiflung an. Sie wollten es nicht mehr hinnehmen, dass ihre Kinder mit geistiger Behinderung, wie es damals hieß, ein Leben im Schattendasein führten.

60 Jahre später sitzen Verantwortliche der Lebenshilfe mit Eltern und Angehörigen gemeinsam im Publikum und erleben, wie Menschen mit Behinderung wie selbstverständlich im Scheinwerferlicht stehen und den Ton angeben. Zum Beispiel als inklusive Band „Mixed Pickles“, die sich nach all den Corona-Einschränkungen so sehr danach gesehnt hat, endlich wieder live aufzutreten. Von „Anita“, „Can´t help falling in love“ bis hin zu „Rocking all over the world“ begeistern die Musiker*innen einmal mehr mit ihrer Musik.

Nicht weniger beeindruckend Thomas Jeske als Co-Moderator, gemeinsam mit Heike Grotstollen, bei der Podiumsdiskussion „Da simmer dabei: Von der Versorgung – über die Mitbestimmung – zur Selbstvertretung, Standortbestimmung – Visionen“. Lebhaft diskutieren Micah Jordan von der Universität Kassel, Selbstvertreterin und Werkstattratsmitglied Christina Mavridis-Neria, Lebenshilfe-Aufsichtsratsvorsitzende Martina Winter und Dagmar Schmidt (MdB, SPD) über Hürden für Menschen mit Behinderung und wie man sie am besten wegräumen kann. Einig waren sich alle Podiumsgäste, dass mehr Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung helfen würden, Vorurteile und vermeintliche Ängste abzubauen, und zwar in allen Bereichen des Lebens.
Hilfreich für die Diskussion ist zudem eine Befragung unter Wetzlarer Bürger*innen, die auch eindrucksvoll in einem Einspielfilm des Teams von „hessencam“ aus Wetzlar auf Großleinwand gezeigt wird. Die Teilnehmer*innen des Peer-Projekts hatten am vorherigen Sonntag in der Altstadt am Bistro der Lebenshilfe Fragebögen verteilt mit Fragen zum Thema, zum Beispiel: „Können Menschen mit Behinderung selbst kompetente Beratung machen?“ „50 Prozent der Befragten antworteten: nein, das könnten sie nicht“, so die Antwort, die Heike Grotstollen mit anderen Ergebnissen der Umfrage vorliest.

Dass die Peer-Unterstützer es doch können, zeigt sich dann beim Höhepunkt der Veranstaltung. Eine von Werkstattratsmitglied Sascha Scheffler hergestellte Bildershow blickt auf das von Aktion Mensch geförderte Projekt zurück und sorgt, auch durch die passende Musikauswahl, für manchen Gänsehautmoment. Eine Viertelstunde lang sind Szenen aus insgesamt 15 Schulungsmodulen zu sehen. Dazu Eindrücke der Abschlussfahrt nach Berlin im August. „An Tagen wie diesen, haben wir noch ewig Zeit“, endet die Präsentation. Und mit ausreichend Zeit werden dann die Peer-Unterstützer*innen nach und nach auf die Bühne gerufen. Aus den Händen und mit Glückwünschen von Martina Winter und Thomas Bauer erhalten sie ihre Zertifikate und bekommen unter dem Applaus des Publikums auch noch extra angefertigte schwarze Westen mit dem Peer-Logo ausgehändigt. Künftig können die 16 Teilnehmer*innen in verschiedenen Bereichen der Lebenshilfe Wetzlar-Weilburg e. V. mit Unterstützungsangeboten für andere Menschen mit Behinderung im Einsatz sein.
„In dieser Nacht der Nächte, die uns so viel verspricht, erleben wir das Beste, kein Ende ist in Sicht“ singen die Toten Hosen. Ganz so lange geht es am Ende nicht, auch wenn die „Mixed Pickles“ zum Ausklang einer gelungenen Veranstaltung im Bürgerhaus noch einige Stücke inklusive Zugabe zum Besten geben.

Tolle Eindrücke aus der Geburtstagswoche

Bildergalerie der Schnürsenkelaktion

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