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"Eine gesellschaftliche Revolution": Vor 60 Jahren gründeten mutige Eltern unsere Lebenshilfe


Als vor 60 Jahren Eltern losrannten, um ihren Kindern mit geistiger Behinderung, wie es damals noch hieß, ein besseres Leben zu ermöglichen, ahnten sie noch nicht, was sie damit auslösen würden. Klar war nur, dass irgendetwas getan werden musste. Die Lage dieser Kinder in der noch jungen Bundesrepublik war hoffnungslos. Vorurteile, Intoleranz bis hin zu offener Ablehnung durch eine unaufgeklärte, unwissende Gesellschaft, hatten damals die übergroße Mehrheit dieser Kinder zu einem Schattendasein am Rande der Gesellschaft verbannt.

„Viele Eltern trauten sich nicht, sich offen zu ihrem behinderten Kind zu bekennen, versteckten es schamvoll vor der Öffentlichkeit, ließen es nur abends im Dunkeln an die frische Luft. Oft waren sie mit dem Kind von einem Arzt zum anderen gegangen, in der Hoffnung, endlich jemanden zu finden, der ihrem Kind helfen könnte. Sie klammerten sich an jeden Strohhalm der Hoffnung, glaubten an Wunderdrogen und
-therapien. Warum gerade ich?, fragten sich viele Eltern“ – so schilderte Tom Mutters, der 1958 mit Mitstreitern die Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. gründete, die Situation Ende der 1950er Jahre. Doch es gab eine Vision: Im Gegensatz zu einem Leben in großen Anstalten sollten die Kinder im familiären Umfeld aufwachsen oder in kleinen Wohngruppen betreut werden. Der niederländische Pädagoge Mutters kannte diese Vorbilder aus seiner Heimat oder durch Auslandsreisen. Plötzlich herrscht Aufbruchstimmung.

1961 ist die Zeit gekommen, um sich auch in der Region Wetzlar-Weilburg den Veränderungen anzuschließen. Überall in Deutschland entstehen Lebenshilfe-Vereine. Und sie entstehen nicht am Reißbrett. Vor allem Verzweiflung über die Lage der eigenen Kinder ist Triebfeder der Gründungen. Aus dem Nichts finden sich mutige Eltern von betroffenen Kindern zunächst separat in Wetzlar und Weilburg zusammen. Aus den Ortsvereinigungen gründen sie dann am 22. September 1961 in Anwesenheit von Lebenshilfe-Bundesgeschäftsführer Tom Mutters in der Pestalozzischule in Wetzlar die Kreisvereinigung Lebenshilfe Wetzlar-Weilburg e. V., um gemeinsam stärker zu sein. „Rückblickend muss man sagen, dass die Gründung unserer Lebenshilfe, wie der vielen anderen im Land auch, nichts weniger war, als eine gesellschaftliche Revolution“, sagt Thomas Bauer, Vorstandsvorsitzender der Lebenshilfe Wetzlar-Weilburg e. V. und ergänzt: „Von Schulpflicht, Werkstätten, Frühförderung und betreutem Wohnen konnte man damals nur träumen. Es gab keine Infrastruktur für Menschen mit Behinderung. Somit können wir den damaligen Gründungsmüttern und -vätern gar nicht genug danken für ihre Tatkraft und ihren unbändigen Willen, den Kindern Teilhabe am Leben zu ermöglichen.“

Immer wieder hat sich die Lebenshilfe in den letzten sechs Jahrzehnten den Herausforderungen der Zeit gestellt. Galt es in der Gründungsphase zunächst mit Hausbesuchen, Rundschreiben, Zeitungshinweisen und der Ausschöpfung zahlreich vorhandener persönlicher Beziehungen zu Behörden und kommunalen Politikern für das Vorhaben zu werben – so ist heute gelebte Teilhabe am Leben und Inklusion Wirklichkeit geworden. Heute betreut die Lebenshilfe Wetzlar-Weilburg e. V. rund 1800 Menschen mit und ohne Behinderung. Vom Kindergarten über die Schule bis zu den Werkstätten und in 15 Wohnprojekten im Raum Wetzlar-Weilburg mit unterschiedlichem Zuschnitt für Einzelpersonen, Paare, Familien oder kleinen Wohngruppen.

„Nach 60 Jahren heißt es aber auch, wachsam zu bleiben gegenüber Entwicklungen in der Gesellschaft, die weniger Inklusion möchten. Getreu unserem Motto „Gemeinsam Eins“ bleiben – darauf wird es in der Zukunft ankommen“ erklärt Thomas Bauer.

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